Ilse Aichinger – Misstrauen als Engagement?

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Hrsg. von Ingeborg Rabenstein-Michel, Françoise Rétif und Erika Tunner, mit einem Nachwort von F. Rétif

Ist für Ilse Aichinger endlich der rechte Zeitpunkt gekommen, um von einem größeren Publikum wahrgenommen oder neu gelesen zu werden?

Ilse Aichinger war die junge, kräftige, weibliche Stimme, die es in der unmittel-baren Nachkriegszeit als eine der ersten, wenn nicht überhaupt als erste, unter-nommen hat, die ungeheuersten Greuel des eben gestürzten Regimes in ihrem Werk zu thematisieren. Vor allem mit ihrer Lyrik und Kurzprosa hat sie ent-scheidend zur Erneuerung der österreichischen Literatur beigetragen, aber bis in ihr Spätwerk hat sie immer wieder innovative schriftstellerische Ansätze gefun-den sowie bestimmte grundlegende Themen variiert: Das Thema des Misstrauens gehört zu den Konstanten ihrer Schriften. Der erste Text, mit dem sie 1947 Auf-sehen erregte, war ein mutiges Manifest, in dem sie zum Misstrauen aufrief, in einer Zeit, die sich eher mit zahlreichen Appellen zum Vertrauen Gehör zu ver-schaffen versuchte. War Aichinger, die Krieg und Verfolgung im eigenen Leben erfahren musste, so pessimistisch? So skeptisch? Oder so untrüglich hellsichtig?